Gehen Sex und Religion zusammen?

LW

Lukas Weber

AM

Alexander Müsgens

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, Tag und Nacht, Pflanzen und Tiere, Seeungeheuer und dann auch schon ziemlich bald Mann und Frau. Die zwei haben alsdann nur eine Aufgabe: „Seid fruchtbar und mehret euch!“ So weit eigentlich alles klar, oder? Leider nein. Wie, wann, wo und mit wem man sich zu vermehren hat und ob das Vermehren an sich nun wirklich immer notwendig ist, darüber streitet man sich seitdem sowohl im Christentum als auch in allen anderen Weltreligionen ausführlich.

Sex, und besonders Sexualmoral, ist eines der zentralen Themen beinahe jedes Glaubens. Das hat massiven Einfluss auf das Leben unzähliger Menschen. Gleichzeitig existiert natürlich auch Religion nicht im Vakuum, sondern ist immer von ihrem Umfeld abhängig. Je nachdem, wie, wann und wo Glaube praktiziert wird, werden Schriften und Anweisungen unterschiedlich interpretiert und ausgelegt. Auch wenn es deswegen wohl niemals eine definitive Antwort auf die Frage geben wird, wie es die Religion mit dem Sex hält, gibt es doch besonders zwei Aspekte unseres Sexuallebens, für die sich die verschiedenen Götter besonders interessieren.

Warum habt ihr Sex?

 

Dass Sex zur Fortpflanzung okay ist, darüber sind sich so ziemlich alle Religionen einig. Gerade im Christentum wäre das nach der klaren göttlichen Aufforderung zum Vermehren wohl auch schwer zu verbieten. Darüber hinaus verteufelte aber besonders das Christentum lange jede andere Motivation für sexuelle Intimität. Wer sich ohne Fortpflanzungsabsicht der Lust des Fleisches hingab, versündigte sich an Gott und zeigte sich damit als moralisch schwach und verdorben. In jüngerer Vergangenheit wurde diese Auslegung oft stark kritisiert – viele Theologen halten mittlerweile auch rein lustvollen Sex für vereinbar mit Gott. Dennoch trägt das Christentum noch immer schwer an der Last dieser Tradition.

 

Andere Religionen sind da weit weniger streng. Sowohl im Judentum als auch im Islam und im Buddhismus hat der Geschlechtsakt oft eine spirituelle Komponente. Sex soll den Menschen Gott näherbringen und ihm Zugang zu einer Dimension gewähren, die über die materielle Welt hinausgeht. Lust wird als essenzieller Teil des Menschseins verstanden. Das geht so weit, dass männliche Impotenz im Islam als Scheidungsgrund gelten kann und Frauen im Judentum ein Recht auf den Orgasmus haben. Ähnliche Relevanz hat der Höhepunkt im Buddhismus, wo der Moment während und nach dem Orgasmus als einzigartig gilt, weil man in ihm für kurze Zeit ohne Wünsche und Ego existiert. Dieser Zustand ist ein Ideal, nach dem viele Buddhisten streben. Der Hinduismus schränkt seine Anhänger am wenigsten ein, wenn es um das Ausleben ihrer Sexualität geht. Bedenkt man, dass das wohl berühmteste Buch zum Thema, das Kamasutra, stark mit dem hinduistischen Glauben verknüpft ist, ist das wohl wenig überraschend. Für Hindus ist in den eigenen vier Wänden so ziemlich alles erlaubt, was Spaß macht – vorausgesetzt, man ist verheiratet.

Mit wem habt ihr Sex? 

 

Selbst bei vergleichsweise freizügigen Religionen wie dem Hinduismus ist klar: Sex gibt es nur in der Ehe – und Ehen werden nur zwischen Männern und Frauen geschlossen. Homosexualität, Polygamie oder Sex außerhalb der Ehe werden prinzipiell von fast allen Religionen verurteilt und als Sünde angesehen.

 

Gerade hier zeigt sich aber deutlich, wie sehr die Interpretation von jahrhundertealten Texten davon abhängig ist: Wer liest sie wann, wo und wie? Ähnlich wie bei der Lust haben besonders evangelische Christen auch beim Thema außerehelicher Sex und Homosexualität begonnen, umzudenken und die entsprechenden Schriften so zu deuten, dass der faire Umgang zwischen zwei Partnern und deren jeweilige Menschlichkeit im Mittelpunkt stehen.

 

Mittlerweile gibt es in beinahe allen Religionen Ansätze, die mehr Wert darauf legen, was man fühlt und denkt, als wer man ist. Am stärksten ausgeprägt ist diese Tendenz im Buddhismus, in dem das Hinterfragen der eigenen Absichten und das Handeln aus Mitgefühl besonders betont werden. Auch in liberalen Strömungen des Judentums stehen die Absichten Liebender immer mehr im Fokus. Versteht man den menschlichen Körper als heilig und behandelt sich und seine Partner entsprechend, spielt alles andere eine eher untergeordnete Rolle. Im Hinduismus und im Islam, insbesondere bei Muslimen westlicher Prägung, gibt es ähnliche Ansätze. Wie in allen anderen Religionen stehen ihnen aber mächtige Gegner im Weg.

Sex, Religion... und Kultur

 

Denn spätestens hier wird klar, dass religiöse Theorie und gelebte Religion selten deckungsgleich sind. Natürlich lässt auch der Islam tolerante, moderne Interpretationen zu; gerade in vielen islamisch geprägten Ländern aber verstärken sich die patriarchalischen Tendenzen von Religion und Gesellschaft gegenseitig. In fast allen Religionen betrifft das auch heute noch die Themen Sex vor der Ehe und Homosexualität. Sie werden überwiegend kritisch gesehen und im besten Fall toleriert, im schlimmsten Fall mit abschreckenden Strafen belegt. Am drastischen ist die Differenz zwischen Ideal und Realität im Hinduismus, der theoretisch sehr freizügig daherkommt, in Indien aber eine extrem sittsame Gesellschaftsordnung geprägt hat. Selbst öffentliches Küssen wird oft strengstens verurteilt.

 

Umgekehrt lässt die Lücke zwischen religiösen Gesetzen und der Realität auch Gutes zu. Dass es heute in allen Religionen Strömungen gibt, die versuchen, Spiritualität mit einem modernen Leben zu vereinen, ist nicht selbstverständlich. Wir verdanken diese Errungenschaften mutigen Aktivist_innen, Visionär_innen und Liebenden, die trotz Lebensgefahr und sozialer Ächtung ihr Leben leben wollten und gelebt haben. Heute gehört Sex vor der Ehe und gleichgeschlechtliche Liebe für viele Menschen auch in Gesellschaften zum Alltag, die beides offiziell nicht erlauben – und das wird sich nicht mehr ändern. Das lässt auf eine sexuelle Revolution hoffen, die nicht nur in der religiösen Theorie stattfindet, sondern auch in der Praxis.