Folgender Beitrag ist ein persönliches Statement Piece von unserer Gastautorin Maxi.

MG

Maxi Gaiser

Warum sagt niemand Vulva, aber Penis ist kein Problem? Wart ihr mal auf einer Klassenfahrt und durftet harmonische Stunden in einem energydrink-geschwängerten, stickigen und angenehm klimatisierten Reisebus genießen? Dann kennt ihr bestimmt das Penis-Spiel. Ein raffiniertes, scharfsinniges Gruppenspiel, bei welchem das Wort „Penis“ von Person zu Person immer etwas lauter gerufen wird, bis eine Person „Penis“ brüllend im Bus sitzt und unter Gelächter der Mitspieler*innen einen scharfen Blick der Lehrer*innen kassiert.
Ganz großer Spaß - let me tell you that. Was wäre, wenn wir dieses witzige Spiel einmal ändern und ein mindestens genauso geniales Organ rumschreien würden? Ihr wisst, wo das hinführt: Wir sprechen heute über Vulven.

Ok, ganz so offensichtlich ist das Ganze nicht. 2018 ergab die bisher größte Vulva-Studie weltweit, dass weniger als 30 Prozent der Personen mit Vulven überhaupt wissen, was mit dem ominösen Begriff der “Vulva” gemeint ist (Ihr wollt mehr dazu wissen? Große Empfehlung dieser Vulva-Doku).

Damit wir hier aber alle über das selbe sprechen, bringe ich einmal Licht ins Dunkel. Das, was als „weibliches Geschlechtsorgan“ bezeichnet wird, beinhaltet folgende Teile:

 

  1. Äußerer Teil und Gesamtheit der äußeren Geschlechtsorgane: VULVA
  2. Körperöffnung, die den inneren mit dem äußeren Teil verbindet: VAGINA
  3. Innere Geschlechtsorgane: Gebärmutter, Gebärmutterhals, Eierstöcke, Eileiter

 

Gut, dass wir das geklärt hätten. Aber warum ist das Wort „Vulva“, trotz seiner anatomischen Korrektheit, noch nicht in unserer Alltagssprache angekommen? Weswegen ist sie stattdessen schambehaftet oder gar unbekannt?

Haben Marsmenschen Angst vor Vulven? 

 

Um dies zu verdeutlichen, schauen wir uns mal ein reales Alltagsbeispiel an: 1972 entsandte die NASA die Raumsonde Pioneer. Diese enthielt Informationen über das Leben auf der Erde, welche von eventuellen außerirdischen Lebensformen empfangen werden sollten. Eine dieser bahnbrechenden Informationen war auf einer Aluminiumplatte eingraviert: Ein Bild eines phänotypischen nackten cis-Mannes und einer - nicht ganz so phänotypischen - nackten cis-Frau. Denn: das Geschlechtsorgan des Mannes wurde in seiner ganzen Pracht abgebildet, während die kurze Linie, welche die Vulva andeuten sollte, nicht eingraviert wurde.


Wie sollen wir jetzt also lockerflockig über Vulven sprechen, wenn wir sogar Angst haben, irgendein Marsmensch könnte von dieser „Linie“ so peinlich berührt und irritiert sein, dass er uns dann nicht mehr auf unsere Raumsondenpost antwortet?!

Wie sich Scham in unsere Sprache eingeschlichen hat 

 

Wenn Menschen dann doch einmal von Vulven sprechen, verwenden sie dafür oft fälschlicherweise den Begriff „Vagina“ oder „Scheide“.  Vagina ist einfach anatomisch falsch, während Scheide als Begriff zu hinterfragen ist. Eine Scheide ist eine Hülle, in die ein Schwert passt. Dies suggeriert Passivität, als wäre der einzige Nutzen der „Scheide“, einen Penis in sich aufzunehmen.
„Scheide“ reiht sich in eine lange Reihe sexistischer und patriarchal bestimmter, tabuisierender Begriffe rund um die weibliche Sexualität ein, wie etwa “Schamhaar” oder “Schamlippen”.
Stattdessen Begriffe wie Intimhaare oder Vulvalippen zu verwenden, kann gegen die wortwörtliche Schambehaftung beim Sprechen über die “weiblichen Geschlechtsorgane” helfen. Vulvalippen beispielsweise entstehen embryologisch aus demselben Gewebe wie der Hodensack, welcher ohne jegliche Schambezeichnung davonkam und kommt.

 

Durch solche anatomischen und gesellschaftlichen Bezeichnungen entsteht eine Kultur der Scham und des Schweigens über die Sexualität von Personen mit Vulven. Es kommt zu einer gesellschaftlichen Tabuisierung der Vulva und damit einhergehend der aktiven und selbstbestimmten Lust.

Wie die Vulva vom Penis abgehängt wurde 

 

Infolgedessen ist der Forschungsstand rund um die weiblichen Geschlechtsorgane drastisch von dem um die “männlichen Geschlechtsorgane” abgehängt worden.


Ich habe eine Weile Zahnmedizin studiert und mich besonders gerne mit Anatomie beschäftigt. In “dem Anatomie-Lehrwerk schlechthin” findet sich zwar immerhin die Abbildung einer Vulva, aber nicht ein Bild der Klitoris in ihrer anatomisch korrekten Gesamtheit. Der Penis hingegen wird en detail besprochen und dargestellt.


Tatsächlich schrieb man das Jahr 1998 als die Urologin Helen O ́Conell entdeckte, dass die Klitoris ein um ein vielfaches größeres Organ ist, als bisher bekannt war. Von außen ist zwar nur die Klitoriseichel an der Spitze der Vulva zu sehen, doch die ganze Klitoris kann bis zu 10 cm groß sein und bei Erregung noch weiter anschwellen. Wieso wissen wir noch nicht mehr über dieses großartige Organ? Die Klitoris ist übrigens das einzige Organ, das allein zum Lustgewinn da ist und zudem um einiges mehr Nervenendigungen als der Penis hat. Eigentlich Grund zum Feiern.  Aber leider hat die kulturelle Sprachverwirrtheit und Tabuisierung von Vulven noch viele weitere Folgen, wie Scham und Angst über den eigenen Körper zu sprechen.

Wunderbare Vulva-Vielfalt 

 

Was die Vulva-Studie aus dem Jahre 2018 auch ergab ist, dass es keine durchschnittliche Vulva gibt. Das bedeutet, dass jede einzelne Vulva auf dieser Welt vermutlich unterschiedlich aussieht - und das überhaupt gar nicht schlimm ist. Im Gegenteil, die Vulva ist ein so grandioses Organ, das es verdient, gefeiert zu werden und genauso auf Schulbänken verewigt zu werden, wie irgendeine Piccaso-Penis-Kritzelei. Trotzdem steigt die Nachfrage nach sogenannten Vulvalippenverkleinerungen. Diese intimchirurgischen Eingriffe können medizinisch indiziert sein, sollen aber meist Vulven an ein realitätsfernes Schönheitsideal angleichen.

 

Denn - jetzt auch durch die Wissenschaft bestätigt- es gibt keinerlei Gründe, sich für seine Vulva zu schämen! Keine Vulva ist wie die andere. Es gibt Vulven in allen Formen und Farben, unrasiert oder frisch gewachst, symmetrisch oder asymmetrisch. Alle sind wunderbar und es wert gefeiert zu werden, auch wenn sie in unserer Kultur lange Zeit in Sprache und Bild versteckt wurden. Dem war nicht immer so: Bis ins Mittelalter hinein finden sich rituelle Figuren von Frauen mit gespreizten Beinen und entblößten Vulven, sogenannte Sheela-na-gigs. Was ist mit dem Vulvatrend passiert? Auch die gesamte Steinzeit hindurch sind Vulven ein großes Thema und ein Dauerbrenner in Kunst-und Alltagsgegenständen.

Hoch lebe die Vulva 

 

Also würde ich mal sagen: Back to the Roots. Lasst uns Vulven nicht länger vergessen und ihnen stattdessen die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdienen. Für mehr Vulva in unsere Sprache! Denn wie wichtig Sprache ist, ist uns wohl allen so langsam klar. Sprache bildet nicht nur die Welt ab, sie kann sie auch mitformen. Wenn Kinder schon selbstverständlich zwischen Vulva und Vagina unterscheiden können, dann kommen wir hoffentlich weit weg von dem patriarchalen und kulturell konstruierten Gedanken, dass Geschlechtsteile mit Sexualität statt zunächst einmal mit Anatomie zu tun haben.

 

Mit dem Nicht-Verwenden dieser Begriffe, wird Tabuisierung und Scham manifestiert. Doch wer sich mit seinem Körper auskennt, entwickelt ein positives Verhältnis zu Körper und Sexualität. Sexualität hat nichts mit Scham, Passivität oder Schwertscheiden, sondern mit Selbstbestimmung und Freiheit zu tun. Und sich auskennen heißt auch die passenden Worte zu kennen - also alle zusammen, ganz laut: Hoch lebe die Vulva!

Wie du bestimmt bemerkt hast, beschäftigt sich der Text zu Teilen mit den binären Geschlechtern, nämlich “männlich” und “weiblich. Das beinhaltet längst nicht alle Menschen und Geschlechter und erst recht nicht alle Personen mit Vulven. Wir wissen, dass es viel mehr Vielfalt gibt, die genauso Platz auf dieser Plattform findet und wollen gesellschaftliche Konstruktionen stets hinterfragen.

Dieser Beitrag ist von unserer Gastautorin Maxi Gaiser! Du findest hier bald mehr von ihr. Ihre Idee zu diesem Text basiert auf dem Comicband „Der Ursprung der Welt“ von Liv Strömquist. Weitere Informationen findest du: hier, hier, hier, hier & hier.