Ein junger Mann wartet an einer roten Ampel, Rennrad, umgekrempelte Hose, Kapuzenpulli, Dreitagebart. Er streicht sich etwas unbeholfen eine Strähne aus der Stirn, dann schaltet die Ampel auf grün und er verschwindet in der Masse der Stadt. Gewöhnliche Szene, gewöhnlicher Junge. Bis auf die Tatsache, dass er vor einem Jahr noch Vroni hieß.
Heute steht Vincent in seinem Pass. Jahrgang: 1996. Geschlecht: männlich. 1700 Euro hat ihn das gekostet. Doch die Änderung seines Namens war nur einer von vielen Schritten auf seinem mühsamen Weg in Richtung Selbstverwirklichung. Schon als Kind wollte Vincent nie eine Frau werden, sondern lieber wie der Papa. Vincents Eltern ahnten nicht, dass eine ihrer Töchter lieber ein Sohn geworden wäre. Vroni bediente sich nicht an der Schminke der Mama und himmelte nicht Torben aus der Vierten an. Vroni flocht sich nicht das Haar, sondern kürzte es auf wenige Zentimeter. Als ihre Brüste zu wachsen begannen, schnürte sie sie mit Verbänden ab.
Transgender, Transsexualität, Transidentität?
Die Begriffe Transsexualität, Transgender oder Transidentität werden - nicht ohne Kritik - häufig synonym verwendet und beschreiben den Zustand, wenn das gefühlte nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Obwohl „transsexuell“ der rechtlich korrekte Begriff ist, lehnen ihn viele trans*Personen ab, da sie ihr Geschlecht nicht allein über Sexualität, sondern auch über die soziale Komponente der Geschlechterrolle definieren. Andere wiederum nutzen bewusst den Begriff „transsexuell“, da das englische Wort „sex“ im Sinne von Geschlecht einen Fokus darauf legt, dass es ihr Körper ist, welcher von der Geschlechtsidentität abweicht.
Transidentität betont ebenso, dass es bei der Sache um die Identifikation mit dem anderen Geschlecht - und nicht um die Sexualität geht. Jedoch ist auch dieser Begriff umstritten, weil er suggeriert, dass der Körper komplett unwichtig wäre, und weil Identität danach klingt, als ob man es sich ausgesucht hätte, transident zu sein.
Meist wird heute das Wort „transgender“ oder eben trans* als Oberbegriff verwendet. Entscheiden muss das letztendlich immer die Person, über die geredet wird. In diesem Artikel spreche ich von trans*Personen.
Vincents Story
Vincent ist einer von mindestens 26.500 Menschen, die ihre Geschlechterrolle gewechselt haben und über Hormone hinaus medizinische Hilfe in Anspruch nehmen (1).
„Ich dachte immer: Mein Kopf ist ein Junge, mein Körper ein Mädchen."
- so beschreibt Vincent, heute 24 Jahre alt, das Gefühl, das für ihn zum Alltag gehörte. Die zentrale These der Gendertheorie ist, dass die Natur nicht vorgibt, was männlich und was weiblich ist, sondern allein die Gesellschaft kreiert das Geschlecht und die zugehörige Rolle. Lange erzählte er niemandem, dass sich sein Körper wie eine angewachsene Verkleidung anfühlte.
Auf dem Schulhof schrie man Vincent beziehungsweise Vroni "Scheiß Lesbe!" hinterher, beim Bummeln in der Stadt spürte sie die fragenden Blicke: Junge oder Mädchen? Dabei hatte sie zu dem Zeitpunkt genug mit sich selbst zu kämpfen.
Eine amerikanische Studie mit über 120.000 jungen trans*Männern zwischen 11 und 19 Jahren fand heraus, dass über die Hälfte von ihnen bereits einen Suizidversuch unternommen haben, wohingegen der Anteil cisgender-Jungs, also denen, denen bei der Geburt das Geschlecht Mann zugewiesen wird und dieses für sie mit ihrem Gefühl übereinstimmt, der Wert nur bei 9,8 Prozent liegt (2).
Liegt diese Verzweiflung ausschließlich am ohnehin in ihrem Inneren tobenden Kampf? Oder leiden trans*Menschen eher unter der oft abschätzigen Art, mit der viele Mitmenschen sie behandeln? Oder führt das eine zum anderen?
Vincent setzt sich auf die Steinmauer am Fluss, lässt die Füße baumeln und zwirbelt seine Beinhaare zwischen den Fingern. Vor anderthalb Jahren sprossen nur vereinzelte Stoppeln. Bart-und Beinhaare kamen erst mit der Testosteron-Creme, die den weiblichen Hormonhaushalt dem männlichen angleicht.
"Ich bin ein stolzer Haarträger", sagt Vincent grinsend und fährt sich über die Borsten am Kinn. Man spürt, dass er lange darauf gewartet hat, das tun zu können.
Mit 14 weihte Vroni ihre Mutter ein, doch die tat die Gefühle ihrer Tochter als eine Phase ab. Als Vincent das erzählt, lächelt er gequält. Sie habe nicht wahrhaben wollen, dass ihr Kind nicht normal ist – was auch immer das bedeutet.
Jungsklamotten, Männerfrisur – auf dem Weg zur Klischeelesbe.
Das dachte Sarah, 25, Vincents große Schwester. Sie sei geschockt gewesen, als sie die Wahrheit erfuhr, erzählt Vincent. Doch unter Geschwistern geht es nicht um Verstehen, sondern Beistehen. Und das tat Sarah. Sie vermittelte zwischen Vroni und ihrer Mutter, bis sie irgendwann begann, Vronis Situation zu akzeptieren.
Gestärkt von Sarah wagte Vroni, sich auch bei den männlichen Freunden zu outen. "Die haben sich gefreut wie sich Mädels über einen schwulen besten Freund freuen", erzählt Vincent lachend. "Die meinten, ich wäre ja eh immer entspannter gewesen als die anderen Weiber." Genau vor den "anderen Weibern" hatte Vroni damals Angst. Wie würde die Mädelsclique reagieren? Würden sie sich fragen, ob Vroni schon mal verliebt war in eine von ihnen? Würde es etwas zwischen ihnen ändern? Doch auch hier traf sie größtenteils auf Verständnis.
Ihre Freunde lieben ihn, sie - egal.
Seit zwei Jahren besucht Vincent einmal monatlich eine Selbsthilfegruppe. Hier hat er Freunde gefunden, die ihn verstehen und ihm beigestanden haben, wenn es ihm schlecht ging. "Als ich meine Brust-OP hatte, haben mich die Leute hier total aufgefangen. Alter, das hat so viel Kohle gekostet. Und Nerven."
Vielleicht lag es an Vincents aufblühendem Selbstbewusstsein, aber nachdem er sich geoutet hatte, klappte es auch mit den Frauen. Seit mehr als einem Jahr ist er glücklich in einer Beziehung. "Mehr kann ich mir eigentlich nicht wünschen. Eine tolle Freundin und echte Freunde."
Komplett umoperiert ist Vincent nicht. Das koste zu viel: "Die Krankenkasse hat schon für die Brustabnahme vier psychologische Gutachten haben wollen und ich weiß nicht, ob sich das wirklich lohnt." Wenn Ärzte einen möglichst originaltreuen Penis konstruieren, arbeiten sie meist mit dem Gewebe unterhalb der Ellenbeuge. Dieser Penis soll auch in der Lage sein, Reize zu empfinden und eine Erektion zu bekommen, wobei ihm eine im Unterleib eingebaute Pumpe hilft. Dazu ist Vincent allerdings noch nicht bereit. "Aber hey, ich hab‘ andere Wege, meine Freundin glücklich zu machen", sagt er und grinst. Außerdem hat sie sich schließlich nicht in ein Geschlecht verliebt, sondern in einen Menschen.
Dieser Beitrag ist von unserer Gastautorin Valerie Hermann! Du findest hier bald mehr von ihr.